Die Zukunftsstadt

PARADIES ODER ALPTRAUM?

von Emma Riedel

In den letzten Jahrzehnten wurde mit den wachsenden globalen Herausforderungen deutlich, dass es im urbanen Lebensstil einer Veränderung bedarf. Saudi-Arabien hat sich zum Ziel gesetzt, eine Stadt zu errichten, die der Zukunft gewachsen ist.

In Saudi-Arabien soll schon bald eine futuristische Stadt errichtet werden, die alle Superlativen bisher bestehender Städte übertreffen soll. 2017 kündigte der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman das Projekt „Neom“ öffentlich an. Sie wird im Nordwesten des Landes, nahe des Suezkanals, erbaut. Von anderen Städten wird sich „Neom“ durch seine Nachhaltigkeit und seinen Komfort abgrenzen. „Neom“ soll gänzlich ohne Co2- Emissionen auskommen und vollständig mit erneuerbaren Energien betrieben werden. Mit dem Bau der Stadt verfolgt Saudi-Arabien unter anderem das Ziel, eine Einnahmequelle abseits von Öl zu generieren, das immer knapper wird. Wirtschaftlich profitiert das Land von „Neoms“ Lage. Etwa 13 % des Welthandels fließen durch den Suezkanal. Außerdem soll die Stadt international Menschen reizen, um das Bevölkerungswachstum Saudi-Arabiens zu fördern. Der Kronprinz pries „Neom“ als „lebenswerteste Stadt der Welt“ an. Strenge Gesetzte, wie das Alkoholverbot, die sonst in Saudi-Arabien gelten, werden in „Neom“ außer Kraft gesetzt. Finanziert wird das Projekt von Saudi-Arabiens Königsfamilie und verschiedenen Investoren. Die Kosten werden bislang auf ca. 500 Milliarden geschätzt.

Der Komplex „Neom“ soll vier verschiedene Bereiche umfassen. Die Wüstenstadt „The Line“ bildet das Kernstück. „The Line“ wird im Gegensatz zu gewöhnlichen Städten linear gebaut. Sie wird eine Breite von nur 200 Metern haben, dafür 500 Meter hoch sein und sich über 170 Kilometer in der Wüste erstrecken. Die Stadt inmitten der Wüste soll Platz für rund 9 Millionen Menschen bieten. „The Line“ wird ganz ohne Autos auskommen. Alle wichtigen Erledigungen sollen binnen von fünf Minuten fußläufig erreicht werden können. Für größere Entfernungen steht ein High-Speed-Zug zur Verfügung, der innerhalb von 20 Minuten von einem zum anderen Ende der Stadt fährt. Von außen wird „The Line“ mit Glasscheiben verspiegelt. Diese reflektieren das Sonnenlicht und machen ein Leben in der Wüste so erst möglich. Die Methode sorgt ganzjährig für eine gleichbleibende Temperatur. „The Line“ wird aus drei Schichten bestehen. Überirdisch sind künstlich angelegte Grün- und Wasserflächen geplant. Sie schaffen eine künstliche Natur außerhalb der Wüstenlandschaft drumherum. In der zweiten Etage werden Häuser, Büros, Schulen, Geschäfte und andere Einrichtungen im gastronomischen, medizinischen und kulturellen Bereich gebaut. Die Infrastruktur und der Verkehr mit Angeboten wie dem High-Speed-Zug und Strom verläuft unterirdisch. In der gewünschten Lage von „The Line“ lebte bislang ein indigener Stamm von ca. 20.000 Menschen, der zugunsten des Baus zwangsumgesiedelt werden musste. Wer sich weigerte, den Lebensraum zu verlassen, drohte eine Haftstrafe oder Hinrichtung. Weitere Menschenrechtsverletzungen werden gegenüber den Arbeitern, die an der Wüstenstadt bauen, befürchtet. Neom werden „menschenunwürdige“ Arbeitsbedingungen beim Bau vorgeworfen.

Neom plant außerdem das Bauprojekt Oxagon, einen schwimmenden, achteckigen Industriekomplex an der Küste des Roten Meeres. Auf einem Raum von 48 km² sollen neuste Technologien der Forschung erprobt werden. Der Schwerpunkt der Forschungen soll auf dem Bekämpfen globaler Herausforderungen, insbesondere des Klimawandels und dessen Auswirkungen, liegen.  Oxagon wird planmäßig sieben Branchen vereinen:

  • Erneuerbare Energien
  • Autonome und nachhaltige Mobilität
  • Modernes Bauwesen (3D-Druck, nachhaltige Stahlproduktion, emissionsfreie Maschinen)
  • Wasser (Meerwasserentsalzungsanlage, Altwasseraufbereitung)
  • Nachhaltige Lebensmittelproduktion (Aquakulturen, nachhaltige Verpackungen, Fleischalternativen)
  • Gesundheit und Wohlbefinden (Pharma, Medizin-Technik, Bio-Technologie, Ernährungswissenschaften)
  • Technologie und Digitalisierung (Robotik, Weltraumsysteme, 3D-Drucker, digitale Infrastruktur)

Die Luxusinsel „Sindalah“ ist der dritte Bereich des Projekts Neom. Anders als „The Line“ und „Oxagon“ dient sie lediglich zu privaten Vergnügungen. Sie befindet sich im Roten Meer und soll ein Rückzugsort für die Finanzgrößen sein, die sich von der Zivilbevölkerung abgrenzen möchten. Der große Anlegehafen für Yachten wird besonders umworben. Im Projekt „Sindalah“ nimmt sich Neom vor, alle Ansprüche ihrer reichen Besucher nochmal um einiges zu übertreffen. „Sindalah“ bietet Luxus von der Haute Cuisine bis zur Golfanlage. Inwiefern es Saudi-Arbabien hilft, das Verhältnis zwischen Wohlhabenden und Armen noch mehr zu spalten, bleibt fragwürdig.

Ähnlich ist das vierte Projekt „Trojena“. Das Winter- und Bergsportresort entsteht auf 1500 bis 2600 Metern Höhe über dem Meeresspiegel. Es wird in „Trojena“ ganzjährig Schnee für die Wintersportattraktionen geben. Der Großteil des Schnees wird allerdings künstlich erzeugt werden müssen. Es ist sogar geplant, die Asiatischen Winterspiele 2029 in der Berglandschaft Neoms auszutragen. Neben den Wintersportanlagen werden die größeren Bauprojekte eines Observatoriums und eines Naturreservats geplant. Die Wintersaison des Resorts konzentriert sich mit Angeboten wie Skifahren, Snowboarden oder Eislaufen vor allem auf den Wintersport. Darüber hinaus soll im Winter eine Wintermodewoche in den Bergen angeboten werden. Im Frühling erwartet die Besucher eine Abenteuersaison, in der sie an Outdoor-Aktivitäten teilnehmen können. Darunter sind Klettern, Parasliding, Mountainbiking und ein Abenteuer-Triatlon. Das sommerliche Wetter wird für allerlei kulturelle und künstlerische Veranstaltungen genutzt. Im Herbst tritt die Wellnesssaison ein, die ein weites Angebot an Spa und Erholung zu bieten hat. Auch „Trojena“ ist ein Ort mit kostspieligem Luxus.

Bereits als ich mich für die Recherche auf die Suche nach sachlichen Informationen über das Projekt Neom machte, musste ich schnell feststellen, dass ich auf der Website von Neom ganz sicher nicht richtig dafür war. Zuerst fiel mir bloß das ansprechende Design und die ästhetische Gestaltung auf. Doch auch die Texte waren aufwändig und bis auf das Maximum einnehmend gestaltet worden. Nichts schien mehr gewöhnlichem Anspruch gerecht zu werden, vieles wurde gleich als „exquisit“, „bahnbrechend“ oder „innovativ“ beschrieben.  Die Insel „Sindalah“ galt beispielsweise als „Ort, an dem die Natur auf verantwortungsvolles Design, fortschrittliche Technologie und inspirierende Architektur trifft“. Ich merkte, dass Neom nach Perfektion strebt. Genau das ist der Punkt, an dem viele den Glauben an die Umsetzung der futuristischen Stadt verlieren. Es wird daran gezweifelt, ob solch ein aufwändiges Projekt Realität werden kann. Außerdem ist die betonte Nachhaltigkeit der Stadt umstritten. Allein für den Bau von „The Line“ werden schätzungsweise 1.8 Milliarden Tonnen Kohlenstoffdioxid benötigt. Angemerkt, „The Line“ ist nur ein Viertel der Stadt Neom. Zum Vergleich: Der weltweite CO2 Ausstoß betrug 2022 36,8 Milliarden Tonnen. Einen Einblick, ob das Projekt tatsächlich gelingen kann, werden wir voraussichtlich nicht allzu schnell bekommen. Der gesamte Komplex Neom soll 2045 fertiggestellt sein.

Fotos: Filip Mroz, Christian Ladewig und Maarten Duineveld auf unsplash.com, Neom

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