Victim Blaming

WENN SIE SICH SO ANZIEHT...

von Furrat Bahadori

2019 gab es laut dem Bundeskriminalamt 9.234 erfasste Vergewaltigungen, sexuelle Nötigungen und sexuelle Übergriffe (hier zusammengefasst: Sexualstraftaten), in 2022 waren es fast 12.000. Aufgeklärt wurden davon durchschnittlich ca. 85% der Fälle, 95% der Opfer sind Frauen.

Zwar deuten mehr erfasste Sexualstraftaten nicht immer auf mehr Sexualstraftaten insgesamt hin, trotzdem sind 12.000 Delikte mindestens 12.000 zu viel. Die Dunkelziffer dürfte viel höher sein, laut dem Bundesfamilienministerium wird jede siebte Frau Opfer schwerer sexualisierter Gewalt: Nicht jede meldet Sexualstraftaten der Polizei.

Die Gründe für Vergewaltigungen und mehr Sexualstraftaten sind vielfältig, schwer zu ermitteln und sprengen den Rahmen dieses Artikels. Vielmehr soll es darum gehen, wie wir mit den Opfern von Sexualstraftaten umgehen. „Victim Blaming“, auf Deutsch „Täter-Opfer-Umkehr“ genannt, beschreibt das Zuschieben der Schuld für ein Verbrechen auf das Opfer der Tat. Diese Schuldumkehr basiert oft auf Missverständnissen und führt zu Scham und Schuldgefühlen bei den Opfern, die zu niedrigem Selbstbewusstsein und Isolation führen können. Wie genau kommt es zum Victim Blaming?

Laut dem Sozialpsychologen Hans-Peter Erb können wir dazu tendieren, die Gründe für die Umstände eines Opfers in ihrer oder seiner Persönlichkeit zu sehen. Gleichzeitig werden beim Täter äußere Faktoren für das Verhalten verantwortlich gemacht: Die Frau sei fremdgegangen, der Mann ist alkoholabhängig. Das nennt man den „Fundamentalen Attributionsfehler“. Er wird vor allem durch ein unsorgfältiges Betrachten der Tat begünstigt, also durch Oberflächlichkeit. So wird dem Opfer Mitgefühl verweigert und die Tat verharmlosend als begründet dargestellt.

Wenn man etwas weniger oberflächlich argumentiert, greift man auf die „Gerechte-Welt-Theorie“ zurück. Das ist die Tendenz zu denken, dass schlechten Menschen eher Schlechtes geschieht, guten Menschen wiederum Gutes. Also muss das Opfer die Tat aus irgendeinem Grund verdient haben, sonst wäre sie nicht passiert. Dadurch entsteht bei uns eine Art Schutz, da damit die Annahme, dass man selbst ein schlechter Mensch ist, augenscheinlich widerlegt ist, da man selbst kein Opfer einer solchen Tat wurde.

Das am häufigsten verwendete Argument kommt zum Schluss: Was hatte das Opfer eigentlich an? Hat man die Schultern gesehen? War sie nachts allein unterwegs? Oder hatte sie zu viel getrunken? Die „Invulnerability Theory“, übersetzt „Unverwundbarkeitstheorie“, besagt, dass Menschen oft glauben, dass ihnen durch ihr „richtiges“ Verhalten schwere Verbrechen und Schicksalsschläge nicht widerfahren könnten. Die folgende Täter-Opfer-Umkehr fußt dann darauf, dass das Opfer falsch gehandelt haben muss, um zum Opfer der Tat geworden zu sein. Die äußeren Faktoren werden nicht wie beim fundamentalen Attributionsfehler übersehen, sondern pauschal als irrelevant eingeordnet, die Schuld für die Tat liege größtenteils beim Opfer. Falsch sind solche Annahmen, da ein Opfer den Versuch der Sexualstraftat durch seine Aktionen nicht unterbinden kann, sie passieren unabhängig vom Verhalten des Opfers.

Nicht nur bei Frauen, die Opfer von Sexualtraftaten wurden, sondern auch Gewaltverbrechen gegen Frauen, rassistisch motivierten Verbrechen und bei der Verbreitung von Hass unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit findet Täter-Opfer-Umkehr statt. Sowohl im echten Leben als auch in sozialen Medien taucht Victim Blaming immer wieder auf. In den Kommentarspalten von Instagram, X (früher Twitter) und Co. finden sich bei jedem Beitrag über eine Straftat mit Täter und Opfer die übelsten Anschuldigungen, geschrieben aus der Anonymität des Internets. Wenn ihr selbst von einer Sexualstraftat oder einer anderen Straftat erfahrt, nehmt einen Schritt zurück, Strafprozesse sind emotional aufladend. Bevor ihr euch äußert, räumt Missverständnisse aus dem Weg. Fragt euch, ob ihr möglicherweise Victim Blaming betreiben könntet und tragt dazu bei, dass der Fokus auf der gerechten Bestrafung des Täters liegt.

Fotos: Ehimetalor Akhere und Stewart Munro auf unsplash.com

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