Kritische Berichterstattung

ZUN FRIESLANDTAKT KANN NUR LANGSAM GETANZT WERDEN

von Redaktion

Ein unscheinbares Schild mit einem gelben ,,H“ , das von Weitem kaum als Bushaltestelle erkennbar ist, markiert für uns den Wendepunkt unseres alltäglichen Lebens – die Bushaltestelle auf dem Land.

Ein winziger Lichtblick auf eigenständige Mobilität am Ende des ,,Eltern-Taxi“-Tunnels, welcher sogleich durch unregelmäßige Busfahrzeiten überschattet wird. Der Frieslandtakt schlägt nur alle drei bis vier Stunden. Also doch das Eltern-Taxi. Ein Luxus, den nicht jeder hat.
Laut dem Deutschlandatlas des Bundes kann die Erreichbarkeit von Bus- und Bahnhaltestellen regional variieren, die Werte bezüglich der Entfernung zu einer Haltestelle können vom Bundesdurchschnitt abweichen. So kann es sein, dass Menschen in ländlichen, weniger besiedelten Regionen länger zu einer Haltestellen laufen, die zwanzig Abfahrten pro Tag zuweisen. Manchmal kann der nächstgelegene Bahnhof auf dem Land gar nicht zu Fuß zu erreichen sein. Trotz dieses Eingeständnisses sollen 90 Prozent der Bevölkerung nur 600 Meter von einer Bushaltestelle mit mindestens zwanzig Abfahrten an einem Werkstag und nur 1200 Meter von einem Bahnhof mit mindestens zwanzig Abfahrten pro Werktags entfernt wohnen. Damit soll ein Mindestangebot an Versorgung gewährleistet werden: „eine Fahrt pro Stunde und Fahrtrichtung in der Hauptverkehrszeit von 7:30 Uhr bis 17:30 Uhr“. Mit dieser „großartigen“ Anbindung der Bevölkerung an den ÖPNV soll ihnen eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht werden, die Chancengleichheit und Versorgung der Gesellschaft soll gewahrt werden und durch die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr gestärkt werden. Nun können die Werte im bundesweiten Durchschnitt abweichen, doch wenn wir mal ganz ehrlich sind, wer von uns hat eine Busstelle in einem Radius von 600 Metern zur Verfügung, an der auch wirklich stündlich ein Bus abfährt? Persönliche Erlebnisse aus der gesamten Redaktion zeigen, welche Probleme es mit dem ÖPNV in ländlichen und nicht-ländlichen Regionen wirklich gibt.
Angenommen, man möchte von meinem Wohnort Zetel nach Oldenburg fahren, sagen wir, um sich einen Film im Kino anzugucken. Mittlerweile als 18-Jähriger mit einem Führerschein total unproblematisch. Nach vierzig Minuten und ca. vier Euro und zweiundvierzig Cent Benzinkosten bin ich angekommen. Weitere Kosten treten zwar beim Parken auf, ca. 2€ die Stunde, falls man aber mit mehreren Personen fährt, ist das wohl noch alles vertretbar. Anders sieht es mit dem öffentlichen Nahverkehr aus. Wer nur mit dem öffentlichen Nahverkehr und zu Fuß am Ziel ankommen möchte, sollte zunächst hoffen, dass er in der Nähe einer Bushaltestelle wohnt. In Zetel ist das nicht selbstverständlich, ich muss beispielsweise zwanzig Minuten zur nächsten Bushaltestelle laufen. Darauf kann man nur hoffen, dass der Bus rechtzeitig ankommt, was absolut nicht selbstverständlich ist. Falls der Bus dann doch zu spät kommt, kann man nur hoffen, seinen Zug, welcher meistens ca. zehn Minuten nach dem Eintreffen des Busses abfährt, auch zu spät ist. Mit etwas Glück kriegt man in diesem Zug jetzt sogar einen Sitzplatz. Nach 26 Minuten ist man aber höchstwahrscheinlich in Oldenburg angekommen, und das alles für den niedrigen Preis von sieben Euro. Aber zumindest kann man jetzt so lange in Oldenburg bleiben wie man möchte, ohne sich Gedanken über das Auto oder seine Fahrtüchtigkeit zu machen. Solange man bis 18:36 wieder im Zug nach Hause sitzt. Denn der letzte Zug aus Oldenburg fährt zwar ganze fünf Stunden später, bietet aber keine Anbindung nach Zetel. Ist es unter diesen Umständen überraschend, dass Dorfkinder Autos bevorzugen? Die meisten Menschen sind keine Auto- oder Fahrrad- oder Zugmenschen. Sie bevorzugen einfach Fortbewegungsmittel, die günstig, schnell, zuverlässig und bequem sind. Öffentliche Verkehrsmittel auf dem Land sind nichts davon. Es gibt einfach keine Initiative, sie zu benutzen und solange das der Fall bleibt, werden es auch nur Leute tun, die einfach keine andere Wahl haben. In unserem Transportsystem sind eben nicht alle Menschen gleich. Minderjährige, Fahrunfähige oder einfach Menschen, die sich kein Auto leisten können, sind klare Verlierer.

Für den Fall, dass man nach 19 Uhr nicht den dreistündigen Nachhauseweg bei eisigen Temperaturen antreten will, darf man damit rechnen, dass man sich schweren Herzens um ca. 18:45 Uhr von seinen Freunden verabschieden muss, um den letzten Bus um kurz nach sieben noch rechtzeitig zu erreichen, vorausgesetzt er verspätet sich nicht, was meistens der Fall ist. Das richtige Zeitmanagement ist auf dem Land gefragt, denn auf einer gestohlenen Kuh nach Hause zu reiten, scheint keine geeignete Alternative zu sein.
So gut wie jeder Jugendliche in der Umgebung von Zetel hat wohl Erinnerungen an das Mark 4. Seien es der erste Besuch, im Außenbereich zu frieren oder die menschlichen Dramen in der Warteschlange. An den Weg nach Hause erinnern sich vermutlich weniger. Dabei ist nach Hause zu kommen oft die eigentliche Schwierigkeit. Wer nah genug dran wohnt, läuft. Wer weiter weg wohnt, lässt sich von Eltern fahren. Hier hört es aber eigentlich auch schon mit den sicheren Transportmethoden auf. Wer sonst nicht nach Hause kommt, fährt mit völlig übermüdeten Freunden, fährt Rad oder schlimmstenfalls selbst Auto. Dabei gibt es, oder besser gesagt gab es dafür eine Lösung: Discobusse. Einen solchen gibt es seit über zehn Jahren nicht mehr, seine Abwesenheit führt zu eigentlich überflüssigem riskantem Verhalten und schließt viele an der Teilnahme von Kulturveranstaltungen aus.
Dabei ist der Ausschluss von Kulturveranstaltungen nur eines der vielen Probleme, die hier bei uns auf dem Land durch einen mangelnden Anschluss an den ÖPNV auftreten. Oft wird uns „Landmenschen“ der Vorwurf gemacht, wir würden immer nur das Auto nehmen, weil wir nicht davon loskommen würden und uns gegen die Mobilitätswende wehren. Wer so etwas behauptet, sollte einmal für ein, zwei Monate in ein Dörfchen ziehen, dessen Ortsname mit „-feld“ endet. Ohne Auto. Diese Person würde ihre Meinung höchstwahrscheinlich nach kurzer Zeit ändern. Die Realität sieht anders aus: Es gibt keine anderen Möglichkeiten, seine Freunde zu besuchen oder in eine etwas größere Stadt zu kommen, ohne selbst das Auto zu nehmen oder seine Eltern um eine Fahrt mit dem Elterntaxi zu bitten. An richtige Bahnhöfe, an denen wirklich Züge abfahren, ist in einem Umkreis von 1200 Metern nicht zu denken. Eine Entfernung von zwanzig Kilometern zum nächsten Bahnhof ist nichts Ungewöhnliches. Und wie soll man nun dorthin kommen? Mit dem Fahrrad? Die einzige realistische Lösung ist das Auto. Und dann fällt schon wieder der Zug aus oder kommt so spät, dass man zu einem festen Termin definitiv zu spät kommt. Zu der mangelnden Versorgung mit Haltestellen und der Unzuverlässigkeit, auch aufgrund des Personalmangels, kommt im Landkreis Friesland hinzu, dass er nicht an kreisübergreifenden Verbundtickets teilnimmt. So gibt es das sogenannte „TIM“-Ticket, welches vom nächstgelegenen Landkreis, dem Landkreis Wesermarsch, bis nach Bremen für Busse und Züge gilt. Zwar kann man mit dem Jugendticket als Schüler*in kostenlos mit den Bussen im eigenen Landkreis fahren, allerdings nicht mit Zügen und nicht außerhalb des Landkreises.
Der mangelhafte Anschluss an den öffentlichen Verkehr hat ernste Folgen. Fahrten, besonders in Städte, sind nicht nur Unterhaltung, sondern für den Anschluss an Kunst, Kultur und politische Teilhabe unersetzlich. Eben alles, woran es auf dem Land gerade für Jugendliche so häufig mangelt. Der öffentliche Verkehr stellt aktuell leider häufig eine Zeit- und Kostenbarriere dar. Besonders für Minderjährige sind Bahntickets oft schlichtweg zu teuer. Hinzu kommt der hohe Zeitaufwand und die starke zeitliche Einschränkung. Der letzte Bus fährt häufig einfach viel zu früh. Eltern fühlen sich meist wie unfreiwillige Taxifahrer, was Eltern-Kind-Beziehungen belasten kann. Und wenn die Eltern nicht fahren können, müssen Termine oft ausfallen. Fahrräder stellen für viele Notlösungen dar, sind aber kaum allwettertauglich. Abgesehen natürlich von den teils verständlichen Ängsten von Eltern vor nächtlichen Fahrradfahrten. Gerade als jüngerer Jugendlicher werden Freundschaften zu Mitschülern, welche außerhalb eines per Fahrrad erreichbaren Radius wohnen, und Hobbys, außer dem Gummistiefelweitwurf im heimischen Garten, oft durch den logistisch-diplomatischen Akt der Anfahrt durch Eltern auf die Probe gestellt. Ein spontanes „Du kannst ja mal eben vorbeikommen“ gibt es nicht. Für Minderjährige und insbesondere für Minderjährige aus Familien, in denen der Transport durch Eltern nicht gewährleistet werden kann, ist der Öffentliche Verkehr oft die einzige Transportmöglichkeit. Wenn er in seiner Aufgabe versagt, gefährdet er Freundschaften, Anschluss an Kunst und Kultur und die finanzielle Lage dieser Jugendlichen. Eine gesamtgesellschaftlich erwünschte Mobilitätswende? Mit einer solchen Infrastruktur, besonders dem maroden System des ÖPNV, schlichtweg nicht möglich.

Fotos: Ant Rozetsky und auf unsplash.com und Navi Ramyle auf pixabay.com

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