CEO-Mord

KANN EIN MÖRDER EIN HELD SEIN?

Es ist der vierte Dezember, 6:45 Eastern Standard Time in New York. Ein Mann läuft aus einem Hotel und wird erschossen. So weit so unspektakulär. Etwa alle elf Minuten stirbt jemand durch Feuerwaffen in den USA, ca. 40 Prozent dieser Toten sind Mordopfer.

Besonders ist aber die Identität des Opfers, es handelt sich um Brian Thompson, den CEO von United Healthcare, der größten Privatversicherung der vereinigten Staaten. Das Mutterunternehmen von United Healthcare, UnitedHealth, zählt zu den fünf umsatzstärksten Unternehmen der USA und belegt Platz 15 der größten börsennotierten Unternehmen.

Noch erstaunlicher als der Mord eines derart wichtigen CEO sind aber die Reaktionen auf diesen. So gut wie niemand betrauert den Mord an Brian Thompson, stattdessen reichen die Reaktionen von Gleichgültigkeit bis Freude.
Edc8307 kommentiert unter dem Video „Chilling video shows suspect run off after murder of UnitedHealthcare CEO“ von CBS New York: „Chilling? Why do I feel so warm and fuzzy then?“. Natürlich ist meine lange und erfolglose Suche nach Kommentaren, welche Sympathie mit Thompson zeigen, nicht aussagekräftig. Umfragen bestätigen jedoch die Unbeliebtheit Thompsons, besonders unter jungen Menschen. 39% der befragten 18-29-Jährigen in einer Umfrage von YouGov haben eine sehr bzw. eher positive Meinung zu Luigi Mangione, dem mutmaßlichen Täter. In einer anderen Befragung von Axios sahen 41% der Befragten in der selben Alterspanne den Mord an Brian Thompson als akzeptabel oder eher akzeptabel. Insgesamt haben zwar nur 18% der befragten US-Amerikaner ein positives oder eher positives Bild von Mangione und nur 17% sehen den Mord an Thompson als gerechtfertigt an, dennoch haben schockierend viele US-Amerikaner Sympathie für einen Mörder und recht wenig Mitleid für einen Ermordeten.
Dabei passte Brian Thompson sehr gut in existierende amerikanische Narrative, ein Sohn eines Getreidesiloarbeiters, der auf dem Land aufwuchs und sich durch exzellente schulische Leistungen und harte Arbeit einen Platz als CEO eines Großkonzerns sicherte.

Allerdings war Brian Thompsons Karriere nicht unbefleckt. Zum Zeitpunkt seines Todes lief gegen ihn eine Klage wegen Betrugs und Insiderhandels. Er und andere Führungskräfte wurden beschuldigt, während der Übernahme eines Konkurrenten Aktienanteile mit einem Wert von über 15 Millionen Dollar verkauft zu haben, kurz bevor eine kartellrechtliche Untersuchung wieder aufgenommen wurde. Diese Informationen soll er Aktionären vorenthalten haben, was angeblich zu erheblichen Verlusten für diese führte.
Aber seien wir ehrlich. Der Mann, der mit Kugeln erschossen wurde, auf deren Hülsen „deny“, „delay“ und „depose“ stand, Begriffe, die auf die Art und Weise anspielen, mit der Versicherungen Ansprüche abwälzen (delay, denie, defend), wurde wahrscheinlich nicht wegen seines vermeintlichen Insiderhandels ermordet. Tatsächlich glauben 69% der Befragten in einer Umfrage von Axios, dass Deckungsablehnungen von Krankenversicherungen einen Faktor im Mord an Brian Thompson spielten. Wie viele Anträge von UnitedHealthcare abgelehnt wurden, ist ungewiss. Sie selbst behaupten, nur ca. 10% aller Anträge abzulehnen, aus Auswertungen von ValuePenguin, basierend auf Daten des „Center for Medicare & Medicaid Service“ geht hingegen eine Quote von 33% heraus, mehr als alle anderen Versicherer und weit über dem Industriedurchschnitt von 19%. Erschwert werden diese Umstände durch den Fakt, dass unter der Führung von Thompson UnitedHealthcare begonnen wurde, eine künstliche Intelligenz zur Automatisierung von Leistungsablehnungen anzuwenden. Eine Sammelklage bezichtigte UnitedHealthcare wissentlich, ein KI-Modell mit einer 90-prozentigen Fehlerquote anzuwenden. Wenn man bedenkt, dass Versicherte nur in einem von 500 Fällen Berufung gegen Leistungsverweigerungen einlegen, fällt es zumindest mir nicht schwer, eine böse Absicht zu vermuten.

Aber was sind die Folgen dieser Leistungsverweigerungen? Zunächst einmal kommt es für viele Betroffene zu finanziellen Schwierigkeiten. Sechs Prozent aller erwachsenen Amerikaner haben mehr als 1000 Dollar an medizinischen Schulden. Enorm viel, wenn man bedenkt, dass ca. 60% aller Amerikaner für einen 1000-Dollar-Notfall nicht aufkommen könnten. Leider kommen aber nicht alle Betroffenen mit finanziellen Schäden davon. Zwar gibt es keine Daten zur Anzahl an Menschen, die durch Leistungsverweigerungen durch Krankenkassen sterben oder verletzt werden, aber Fälle lassen sich leicht finden. Zudem geht es hier natürlich nicht nur um Thompson persönlich, er steht praktisch repräsentativ für die gesamte US-Gesundheitsbranche und die hat einen äußerst schlechten Ruf. Nur 44% sind mit der Qualität der medizinischen Behandlung zufrieden, die Zufriedenheit mit den Krankenkassen liegt nur bei 28%. Mehr als verständlich, wenn man bedenkt, dass jährlich ca. 60.000 Amerikaner sterben weil sie keinen Zugang zu lebensrettender medizinischer Versorgung haben. Und das, obwohl Amerikaner pro Kopf mit Abstand am meisten für ihre Gesundheitsversorgung ausgeben.
Aber wieso besteht dieses System dann überhaupt weiter? Natürlich, weil es wahnsinnig lukrativ ist. Der amerikanische Markt für Krankenversicherungen alleine hat eine Größe von ca. 1,6 Billionen US-Dollar. Selbstverständlich hat UnitedHealth Interesse an der Aufrechterhaltung dieses Systems, was sich in ihren Lobbygebühren von 7,52 Millionen widerspiegelt. Vielleicht wäre es unfair zu sagen, dass das US- Gesundheitssystem Menschen für höhere Profite tötet. Aber eine Abwägung zwischen Profiten und Leben findet in jedem Fall statt und ehrlicherweise bin auch ich mir nicht sicher, ob es hier überhaupt einen Unterschied gibt. Nur weil Brian Thompsons Taten keinem Straftatbestand entsprechen, ist er nicht unschuldig. Als CEO der größten privaten Krankenversicherung trug er ohne Zweifel mit Verantwortung für die fragwürdigen Geschäftsentscheidungen von UnitedHealth sowie den allgemeinen Zustand des Marktes. Allerdings war Thompson im Gegensatz dazu, was eine der Patronenhülsen nahe legen würde, eben kein Tyrann, der abgesetzt werden musste, sondern Teil eines hochgradig bürokratischen Systems,das auch ohne ihn auskommt. Und um Teil eines solchen Systems zu sein, muss man eben kein hochgradig schlechter Mensch sein. Stattdessen sind die Menschen, aus denen sie bestehen, gewöhnliche Büroarbeiter. Menschen, die ihre Miete zahlen müssen und ihre Kinder auf gute Hochschulen schicken wollen. Menschen, die nicht aus Liebe für die Versicherungsbranche arbeiten, sondern um Geld zu verdienen, befördert zu werden und in ihrer Karriere weiterzukommen. Das Problem ist eben nicht Brian Thompson oder irgendein anderer individueller Mensch, sondern ein Gesundheitssystem, dessen primäres Ziel nicht das Wohlbefinden des Patienten ist, sondern, eine Zahl zu erhöhen oder einen Pfeil nach oben rechts zu treiben. Würde mich das trösten, wäre ich selbst oder ein geliebter Mensch Opfer dieses Systems? Macht das Thompsons Taten vertretbarer? Natürlich nicht.
Trotzdem ist das Töten von CEOs kein Allheilmittel gegen die Probleme dieser Gesellschaft. Dies ist aber auch keine Krankheit, die einfach ausgemerzt werden kann, sondern ein Symptom einer zurecht zutiefst unzufriedenen Gesellschaft. Dabei wäre die USA durchaus in der Lage, ein öffentliches Gesundheitswesen einzuführen, dies wird aber durch Lobbyarbeit und einen Mangel an politischen Willen verhindert. Es ist nicht unverständlich, dass es US-Amerikaner gibt, die sich einem ihnen aufgezwungenen, brutalen System gegenübersehen und den Impuls verspüren, sich mit allen Mitteln zu wehren. Und wenn das moralisch verwerflich ist, sind es die Praktiken der US-Gesundheitsbranche ebenso. Aber man sollte sich vermutlich auch fragen, ob der Mord an Thompson überhaupt etwas gebracht hat, und da ist die Antwort klar: nein. Der Mord an Thompson war nicht ausschlaggebend für irgendwelche weitreichenden Veränderungen, die einzigen, die durch ihn profitieren werden, sind vermutlich private Sicherheitsdienste. Die traurige Wahrheit ist, dass sich die US-Bürger durch ihre Wahl von Trump für ein System entschieden haben, das sie so eigentlich nicht mehrheitlich befürworten. Aber auch Kamala Harris hat sich von ihren ehemaligen Idealen eines verstaatlichten Versicherungssystems distanziert, welche sie 2019 noch durch die Unterstützung Bernie Sanders „Medicare for All“-Gesetzesentwurfs durchzusetzen versuchte. Der politische Wille, den es bräuchte, um ein System zu verändern, welches so vielen Amerikanern schadet und welches sie mehrheitlich nicht mehr wollen, existiert einfach nicht.

Fotos: Bermix Studio und Anna Yablonskay auf unsplash.com

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